NMJ: Medien werden aktuell immer wieder kritisiert, sie würden einseitig berichten und Informationen verschleiern bzw. zurückhalten. Wie schätzen Sie diese Kritik ein?
Emmer: Vorab: es gibt dazu noch keinerlei wissenschaftliche Daten; meine Expertise reicht deshalb nicht viel weiter als die anderer Beobachter und fusst eher auf subjektiver Wahrnehmung. Ein Problem ist vielleicht, dass viele Medien angesichts der heiklen Aspekte dieses Themas versuchen, möglichst zurückhaltend und sachlich zu berichten; dann schlägt die Kakophonie der unterschiedlichen Wortmeldungen – von „Refugees Welcome“ bis „Obergrenze“, von Kriminalitätsgerüchten und Gewalttaten bis zu herzerwärmender spontaner Hilfsbereitschaft -, direkt durch auf den Medieninhalt und die Wahrnehmung der Rezipienten. Eine etwas aktivere und einordnende Rolle der Medien wäre wünschenswert.
NMJ: Warum werden Medien aktuell kritisiert? Woher kommt die Haltung „Lügenpresse“?
Emmer: Man sollte das nicht überdramatisieren. Ein signifikanter Teil der deutschen Bevölkerung, je nach Region fünf bis fünfzehn Prozent, hat das Gefühl, dass die Abbildung der Welt in den Medien sich nicht mehr mit ihrer eigenen Sicht deckt. Wenn man dann nicht reflektiert genug ist, um mit gelegentlichen Fehlern von Journalisten umgehen zu können und um sein eigenes Weltbild zu prüfen, ist es ein Reflex, nach Sündenböcken und Verschwörungstheorien zu greifen. Insgesamt ist es aber nicht so, dass bei allen Bürgern generell das Vertrauen in Medien zurückgehen würde. Das ist zum Teil ein Wahrnehmungsproblem, das durch die besonderen Eigenschaften der digitalen Kommunikation in sozialen Netzwerken ausgelöst wird: Wenn kleine, aber aggressive und aktive Gruppen Medien und Foren im Netz mit ihrer Kritik überschwemmen, entsteht schnell ein wenig repräsentativer Eindruck einer weit verbreiteten Kritik. Weil Inhalte im Netz aber mittlerweile so individualisiert verbreitet werden, lässt sich – anders als in den wenigen, klassischen Massenmedien – hier gar keine „objektive“ Meinungsverteilung mehr ermitteln: Real ist, was wir jeweils in unseren Timelines sehen.
NMJ: Wie sollten Medien nach agieren, um das Vertrauen der Leser und Zuschauer wieder zu erlangen? Ist das überhaupt nötig?
Emmer: Den harten Kern an Menschen, die sich in eine solche Spirale aus Verschwörungstheorien und Hass hineingezogen haben, bekommen Sie vermutlich ohne Psychotherapie nicht mehr heraus. Aber es gibt viele, die noch nicht so weit sind und eher mit Abwendung von Politik und Desinteresse auf solche Debatten antworten. Die kann man mit den üblichen vertrauensbildenden Massnahmen – Ehrlichkeit, Transparenz, Eingestehen von Fehlern, besserer Information und Einordnung – wieder gewinnen.
NMJ: Wie viel Nähe darf ein Journalist zulassen, was wäre für Sie eine Grenzüberschreitung?
Emmer: Ich würde eher sagen, es muss für die Rezipienten deutlich werden, wie Journalisten arbeiten: Wenn ich weiss dass etwas sehr subjektiv ist, hat das eventuell durchaus Erkenntnispotenzial. Eine Grenzüberschreitung ist es nur dann, wenn es als etwas anderes verkauft wird als es ist.
NMJ: Haben Journalisten im vergangenen Jahr ihre Distanz verloren und sich „mit den Flüchtlingen gemein gemacht“?
Emmer: Nein. Journalisten, die eine in der Verfassung abgesicherte Aufgabe wahrnehmen, sollten diese Aufgabe im Rahmen unserer Grundwerte erfüllen, die im Wesentlichen durch Menschenwürde und Menschenrechte definiert sind. Kein Mensch hat einen Anspruch darauf, dass Journalisten seine rassistischen oder menschenverachtenden Positionen verbreiten oder vertreten, auch wenn es einen signifikanten Bevölkerungsanteil geben mag, der genauso denkt.